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Rundbrief Januar 2011

Die Macht der Sanftmut

Margarethe Randow-Tesch
Eines der großen Verdienste des Kurses ist es, dass er unsere vielen Probleme auf ein Problem reduziert. Er verlagert es von außen – der Welt der Beziehungen, in die wir es gelegt haben und wo wir es in vielfältigsten Formen sehen und wiederholen – nach innen, in die zeitlose Gedankenwelt unseres gespaltenen Geistes, die wir in der Vergessenheit halten. Dort stellt sich das Problem neu dar: als Entscheidung zwischen dem Angriffsdenken des Ego, das Konflikt, Schuld und Angst zur Folge hat, und der Erinnerung an die ewige Sanftmut der Wahrheit, die ganz still ist.

Angriff beruht auf dem Glauben an getrennte Teile, die sich voneinander unterscheiden – denn welchen Sinn würde Angriff sonst ergeben? Diesen Glauben nennt der Kurs Falschgesinntheit. Angriff ist der Vater der Erfahrung vom getrennten Selbst, das mit anderen getrennten Selbsten in Interaktion tritt, einer fundamentalen Erfahrung, die alle Lebewesen in der Welt machen. Im Kurs heißt es deshalb: »Die Welt ist aus dem Irrtum geboren und hat ihre Quelle nicht verlassen« (Ü-II.3.1:2). Der griechische Philosoph Heraklit hatte Recht, als er sagte, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Das ist eine zutreffende Beschreibung des Egodenksystems. Er hatte Recht und auf einer anderen Ebene zugleich Unrecht, denn er sah nicht, dass die getrennten Dinge Illusionen sind.

Sanftmut hingegen beruht auf der Erinnerung an die Einheit aller Dinge. Diese Erinnerung nennt der Kurs Rechtgesinntheit, und ihre Funktion ist es, den Irrtum zu berichtigen. Sie liegt in jedem Geist, und mit ihr geht gegenwärtiger Frieden einher, denn sie spiegelt die Wahrheit oder den Himmel: »Der Himmel ist … ein Gewahrsein vollkommenen Einsseins und die Erkenntnis, dass es sonst nichts gibt, nichts außerhalb dieses Einsseins und nichts anderes darin« (T-18.VI.1:5-6). Dieser Erinnerung Raum zu geben, bis sie den Geist vollständig ausfüllt, ist der Prozess der Heilung. Rechtgesinntheit ist Unschuld, weil sie nichts Fremdes kennt. In ihrem Denken ist »Angriff … weder sicher noch gefährlich. Er ist unmöglich« (T-22.VI.12:8-9). Das ist das einzige Fundament, das uns Schutz und Sicherheit bieten kann.

Der Rechtgesinntheit liegt zwangsläufig eine andere Logik als der Falschgesinntheit zugrunde. In der Falschgesinntheit ist der Verlust des einen der Gewinn des anderen – ein Denken, auf dem diese Welt aufgebaut ist und das hier nach dem Schiffsschaukelprinzip wiederholt wird: »Wenn der andere falsch liegt, liege ich richtig. Wenn der andere aber richtig liegt, muss ich falsch liegen.«

In der Rechtgesinntheit ist es anders: Wenn alles in Wirklichkeit eins ist und in dieser Einsicht der einzig stabile Frieden und die einzige Sicherheit liegen, die es gibt, welchen Sinn hätte es dann, irgendeinen Teil anzugreifen? Es könnte nur Verlust zur Folge haben. Danach gilt: »Wenn ich den anderen ins Unrecht setze, setze ich auch mich ins Unrecht; und wenn ich dem anderen vergebe, vergebe ich mir selbst.« Ein Bruder ist alle Brüder, lehrt der Kurs. Deshalb heißt es an einer Stelle im Kurs, in der die Welt als Schlachtfeld der Falschgesinntheit beschrieben wird, dass wir daran denken sollten, uns über die Falschgesinntheit im Innern zu erheben: »Diejenigen mit Gottes Stärke in ihrem Gewahrsein könnten nie an Kampf denken. Was könnten sie anderes gewinnen als einen Verlust ihrer Vollkommenheit? … Wer, den die Liebe Gottes trägt, könnte es schwierig finden, die Wahl zu treffen zwischen Wunder [Vergebung] oder Mord [Angriff]?« (T-23.IV.9:1-2,8).

Der Kurs ist ein sanfter Appell, uns dieser Alternativen zu unserem eigenen Besten sehr bewusst zu werden und sie uns, so gut wir können, in jeder Situation und in jedem Augenblick ruhig vor Augen zu führen. Das ist mit Wachsamkeit gemeint. Wir müssen lernen, die Probleme, wie wir sie arrangiert haben – die Frustrationen in der Welt, die Fehler anderer – von ihren Verkleidungen zu befreien, und zum wirklichen Problem vorzudringen: der Wahl zwischen Falschgesinnheit und Rechtgesinntheit, zwischen der Illusion, die uns gefangen setzt, und der Wahrheit, die uns frei macht.

In der Welt erscheint das manchmal fast unmöglich, aber das Problem ist nicht in der Welt. Zu glauben, dass es in der Welt ist, ist bereits der Irrtum an sich. Sobald wir auf die Fehler anderer mit Ärger reagieren, sind wir diesem Irrtum verfallen. Das Verhalten, das sich daraus ergibt, kann dann nicht mehr konstruktiv sein.

Denken wir daran: »Die Welt hat ihre Quelle [den Irrtum im Geist] nicht verlassen. Wenn der Gedanke der Trennung in einen Gedanken der wahren Vergebung umgewandelt worden ist, wird die Welt in einem ganz anderen Licht gesehen werden« (Ü-II.3:1:4). Deshalb werden wir gebeten, die konflikthaften Interpretationen in Beziehungen, Situationen und Umständen sanftmütig als Hinweis auf unseren eigenen fehlgeleiteten Geisteszustand zu betrachten und zu üben, ihn zum freundlichen Licht der Wahrheit zurückzubringen. Das ist die kleine (und für uns oft sehr große) Bereitwilligkeit.

Die Erinnerung an die ewige Sanftmut des Geistes ist das Lernziel des Kurses und die Heilung, nach der wir uns sehnen. Sanftmut ist nicht Verhalten. Sie hat nichts mit Märtyrertum zu tun oder damit, das zu tun, was andere wollen, womit wir sie sehr leicht verwechseln. Sanftmut ist das Denken des Einen in der Erscheinung des Vielen. Von einem Verhalten, das daraus folgt, werden alle profitieren.

Weshalb ist Sanftmut eine Macht? Ganz einfach, weil sie heilt. Sie befreit den Geist von allem, was ihn niederdrückt: vom Schmerz der Kleinheit und der Minderwertigkeit, geboren aus der Fantasie des Selbstverrats, von dem Gefühl der Einsamkeit und Vergeblichkeit und vom Glauben an Feinde.

Wir müssen und können nicht perfekt sein. Wir werden durch viele Stadien gehen und vielen Hindernissen im Innern und Äußeren begegnen. Die Erinnerung an die Sanftmut in uns wird jedoch wachsen, und je mehr wir sie anwenden, desto verlässlicher wird sie.

»Schütze alle Dinge, die du wertschätzt, durch den Akt, sie wegzugeben, und du bist sicher, dass du sie nie verlieren wirst. Das, was du glaubtest, nicht zu haben, wird so als deins bewiesen« (Ü-I.187.4:1-2).

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